Die Straße nach Havøysund ist ein Traum! Die Sonne scheint und wir haben zwar Gegenwind, aber hier ist absolut kein Verkehr mehr. Die Straße windet sich entlang der Küste Richtung Norden, durch bizarre Felsformationen und über zwei kleine Pässe. Die Landschaft ist zwischen den Felsen erstaunlich grün und wir entdecken immer mehr Rentiere neben, oder auch auf der Straße. Ein paar wenige haben Glocken um und im ersten Moment denkt man, man sei im Allgäu und würde gleich eine kleine Herde Kühe sehen.

Wir finden zum Glück eine windgeschützte Bank in einem kleinen Ort für die Mittagspause, der Wind bläst doch sehr kalt von Norden. Die Tierwelt hier draußen ist beeindruckend: Im einen Moment schauen wir den Delfinen zu, die nah am Ufer immer wieder aus dem Wasser auftauchen, hinter der nächsten Kurve sitzt nur wenige Meter von uns entfernt ein Seeadler auf einem Felsen und im nächsten Moment rennt wieder eine kleine Gruppe Rentiere über die Straße. Wahnsinn! Und dazu diese Ruhe! Wir haben wirklich das Gefühl ans Ende der Welt zu fahren.

Am späten Nachmittag kommen wir in das kleine Fischerörtchen Havøysund und weil wir irgendwie das Gefühl haben, dass das hier “unser” Nordkapp ist, ohne viele Touristen und mit ganz viel Natur, gehen wir im einzigen Restaurant im Ort essen, um das zu feiern. Ein altes Fischereigebäude wurde hier zu neuem Leben erweckt und ein paar Wochen im Sommer werden regionale Gerichte serviert. Wir haben natürlich nicht reserviert, weil wir nicht für möglich gehalten haben, dass das in diesem kleinen Ort nötig ist. Aber als die Bedienung als erstes fragt, ob wir reserviert haben, sehen wir uns schon bei Nudeln und Pesto vor dem Zelt sitzen. Tatsächlich sind sie eigentlich ausgebucht, aber auf Nachfrage in der Küche dürfen wir doch bleiben. (Nach uns kommen immer wieder noch Leute, die auch nicht reserviert haben, doch sie werden alle weggeschickt, was für ein Glück wir hatten!) Die Auswahl an Gerichten ist klein, aber das ist ja oft ein gutes Zeichen. Wir entscheiden uns für Rentier und lokalen Fisch und es ist richtig lecker! Nachdem wir eigentlich doch immer selber auf dem Campingkocher kochen, genießen wir das gute Essen besonders!

Satt und zufrieden verlassen wir das Restaurant und wollen uns eigentlich auf die Suche nach einem Schlafplatz in der Nähe des Ortes machen, aber als wir am Hafen vorbei kommen, entdeckt Yann ein Segelboot mit französischer Flagge und wir kommen mit Jean-Francois ins Gespräch. Kurze Zeit später sind wir auf seinem Segelboot und er zeigt uns, was er in 16 Jahren in liebevoller Handarbeit aus dem Boot gemacht hat. Vor etwa einem Jahr ist er mit seiner Frau in Frankreich los gesegelt, über die Niederlande, Dänemark und Schweden bis nach Norwegen! Die Erzählungen wecken in Yann Träume von einer Weltumseglung und der 62-jährige Jean-Francois sieht in Yann sein früheres “Ich”. Da haben sich zwei gefunden! Sie geben uns gleich Tipps, wo ihre schönsten Ankerplätze waren, für unseren Segeltörn ans Nordkapp, von dem wir bis vor kurzem noch nichts wussten. Zum Abschied bekommen wir eine Seekarte von Norwegen und wir tauschen Kontaktdaten aus. Die beiden werden morgen sehr früh aufbrechen und zum Nordkapp Segeln, das muss auch ein tolles Erlebnis sein!

Etwas später sitzen wir hinter Havøysund auf einem Hügel, nicht weit von unserem Zelt auf den Felsen über dem Wasser und blicken in der Abendsonne über das Meer und rüber zur Nordkapp-Insel. Zwischen den Inseln schwimmt ein Wal, vielleicht ein Grindwal. Ein Fuchs kommt in unsere Richtung gelaufen, bleibt stehen, ändert die Richtung zu den Felsen am Wasser. Scheinbar sitzen wir in seiner Route. Er läuft unterhalb von uns vorbei und verschwindet zielstrebig rechts zwischen den Felsen. Als wir in der gleichen Richtung eine Robbe im Wasser erspähen, laufen wir den kleinen Pfad in die Richtung. Plötzlich kommt uns der Fuchs wieder entgegen, im Maul eine Möwe, er scheint genau gewusst zu haben, wo er schnell erfolgreich wird. Er schaut uns eine Weile an, dreht dann aber doch lieber mit seiner Beute um und verschwindet wieder zwischen den Felsen. Die Robbe entdecken wir nicht mehr. Was für ein Tag, was für ein Abend! Morgen noch zum richtigen Nordkapp zu fahren, scheint uns gar nicht mehr so wichtig, wir haben unseren besonderen Tag hier oben am nördlichen Ende Europas schon gehabt! Mit viel Natur, tollen Erlebnissen und ohne Touristen.

Das Hurtigruten-Schiff MS Richard With läuft pünktlich den kleinen Kai an, die große Laderampe wird geöffnet und wir gehen mit drei anderen Fahrradfahrern an Bord. An der Rezeption erhalten wir unsere personalisierten Bordkarten. Etwas komisch fühlt es sich schon an in den Fahrradklamotten, seit Tagen ungeduscht, über das Schiff zu laufen, auf dem andere eine Kreuzfahrt machen. Dabei ist die Atmosphäre sehr viel netter und entspannter als wir uns das auf einem richtigen Kreuzfahrtschiff vorstellen, es gibt auch keine Bespaßungsangebote, lediglich einen kleinen Shop, ein Restaurant und zwei Cafés. Oben an Deck finden wir ein windgeschütztes und gemütliches Plätzchen und frühstücken dort wie gewohnt unser Müsli, während wir zwischen den Inseln und Landzungen Richtung Honningsvåg fahren. Dann macht der Kapitän eine Durchsage, dass auf der linken Seite, die Seite auf der wir sitzen, Wale zu sehen sind. Wir sehen gerade noch, wie zwei Buckelwale noch ein paar Mal atmen und dann, ihre Schwanzflossen zeigend, abtauchen. Wenig später taucht etwas weiter weg wieder ein Buckelwal auf, er scheint seitlich im Wasser zu liegen und “winkt” mit seiner großen Seitenflosse eine ganze Zeit lang. Was für faszinierende Tiere!

Um 10 Uhr macht dann das Café auf und wir holen uns noch schnell ein paar Leckereien, bevor es in Honningsvåg schon wieder von Bord geht.

Wir kaufen ein und machen uns auf den Weg zum Nordkapp. Von hier aus sind es noch etwa 35 km und einige Höhenmeter. Nach dem ersten Anstieg treffen wir an einem Picknick Platz zum zweiten Mal heute auf Jenni und Ole und vespern gemeinsam. Die beiden wollen erst morgen zum Nordkapp und nach ein paar gemeinsamen Kilometern biegen sie ab in ein kleines Fischerdorf, wo der letzte Campingplatz vor dem Nordkapp ist. Wir machen uns dagegen an den nächsten großen Anstieg, die Sonne scheint und es wird warm, weiter oben haben wir etwas Gegenwind. Zu beiden Seiten der Straße sehen wir hier oben viele Rentiere, zum ersten Mal auch viele junge Rentiere mit ihren Müttern.

Über ein paar letzte Hügel geht es zum Nordkapp, die vielen Wohnmobile sind schon von weitem auf dem Parkplatz zu erkennen. Verrückt, wir haben es geschafft und sind tatsächlich am nördlichsten befahrbaren Punkt Europas angekommen. Wo der nördlichste Punkt tatsächlich liegt, wird viel diskutiert… Es ist später Nachmittag und wie wir später feststellen, ist verhältnismäßig wenig los, als wir vorne am berühmten Globus stehen. Wir bekommen sogar einen kleinen Applaus von den Leuten, als einer fragt, woher wir kommen und wie weit wir gefahren sind und zwei Motorradfahrer helfen uns, die Fahrräder mit den schweren Taschen fürs Foto die steilen Stufen hoch zum Globus zu tragen. Wahnsinn, jetzt stehen wir tatsächlich hier, nach über 5000 Kilometern im Sattel. Trotz zwei Wochen Regen und trotz kaputtem Knie! Irgendwie surreal, das müssen wir erst noch realisieren.

Als wir wenig später ein paar Meter weiter über den Zaun die hohe Klippe runter schauen, macht es plötzlich einen großen Platscher. Und kurze Zeit später springt der Buckelwal ein zweites Mal aus dem Meer. Was für ein besonderes Erlebnis! Danach entfernt er sich langsam, ein paar mal sieht man ihn noch atmen… Die Sonne scheint zwar, aber es weht ein kalter Nordwind, deswegen sind wir froh uns im Besucherzentrum bei einer Waffel etwas aufwärmen zu können und das Treiben draußen nebenher zu beobachten.

Wir wollen hier oben die Nacht verbringen und suchen uns einen Platz für unser Zelt. Eigentlich gibt es Platz genug, aber die meisten anderen Zelte (etwa 20) verstecken sich in einer Senke hinter dem großen Parkplatz. Vermutlich aus Angst vor Wind, dabei windet es heute gar nicht so sehr und er soll auch in der Nacht nicht zunehmen. Also stellen wir unser Zelt direkt vorne an der Steilküste auf, mit Sonne und Blick aufs Wasser, so schön! Wir kochen Abendessen auf dem Campingkocher und gehen gegen Mitternacht noch mal zum Besucherzentrum und zum Globus rüber, wo sich unglaublich viele Menschen versammelt haben um die Mitternachtssonne am Nordkapp zu erleben. Kurze Zeit später ist der Großteil zum Glück wieder weg und es wird ruhig.

Wir verbringen den nächsten Vormittag noch gemütlich am Zelt und genießen die Aussicht und das gute Wetter. Einige Leute kommen am Zelt vorbei und sprechen uns an, wollen wissen wo wir herkommen und wo wir los geradelt sind. Eine Sache überrascht uns immer wieder: Wenn andere Touristen Radler wie uns sehen, mit voll bepackten Rädern, scheinen sie eher zu denken, dass wir nur 2-3 Wochen Urlaub machen und dann wieder nach Hause fliegen. Meist ist die erste Frage: “Wo kommt ihr her?” Und nach unserer Antwort die nächste: “Und wo seid ihr losgefahren?” Dass wir und die meisten anderen, die hier unterwegs sind, wochen- und monatelang mit dem Fahrrad reisen und von zu Hause tausende Kilometer bis ans Nordkapp fahren, scheinen sie gar nicht in Betracht zu ziehen. Die Überraschung und der Respekt vor der langen Strecke sind dafür dann aber umso größer, wenn sie uns ansprechen. Hier vorne am Nordkapp haben wir fast das Gefühl, eine der Attraktionen zu sein, wir hätten vielleicht Geld verlangen sollen von jedem, der von uns ein Foto macht.
Tatsächlich schläft der Wind irgendwann ein und es wird unglaublich warm. Kaum zu glauben, dass wir hier am nördlichsten Punkt Europas sind. Selbst in T-Shirt und kurzer Hose fangen wir an zu schwitzen, ohne dass wir uns bewegen. Auch den Rentieren ist es viel zu warm, sie suchen überall nach Abkühlung.

Es wird Zeit, diesen besonderen Ort wieder Richtung Süden zu verlassen. Das Nordkapp war für uns von Anfang an zwar der nördlichste Punkt unserer Reise, aber nicht wirklich das Ziel. Wir wollten in erster Linie möglichst viel von Norwegen sehen und erleben und sind froh, nicht hier oben direkt in den Bus einzusteigen und zum nächsten Flughafen zu fahren, wie einige andere. Wir wollen es nach den Erlebnis reichen Wochen ausrollen lassen und noch ein bisschen was von Finnland sehen, bevor wir dort in Rovaniemi in den Zug steigen und endgültig die Heimreise antreten.

10 Antworten zu „Nordkapp – am Ziel?!“

  1. Avatar von Thomas Finkbeiner

    Herzlichen Glückwunsch euch beiden! Das ist echt eine tolle Leistung. Könnt ihr vielleicht einfach noch ein bissle weiter fahren und berichten, ich freu mich immer darauf von euch zu lesen…
    Liebe Grüße aus Tübingen, Thomas.

    1. Avatar von Tamina

      Vielen Dank! Och, von uns aus gerne. Brauchen dann nur vielleicht Sponsoren… 😉
      Liebe Grüße zurück!

  2. Avatar von Hardy

    Hallo und Moin aus Lilienthal. Herzlichen Glückwunsch zu dieser tollen Leistung!
    Wieder ein super Bericht mit wunderschönen Fotos. 5000 km sind ein langer Weg, aber ich kann mir vorstellen, dass das reine Radfahren am Ende nicht so schwer war, wie der Umgang mit anderen Unannehmlichkeiten und Hindernissen, die sich euch ab und zu in den Weg gestellt haben.
    So ist es mir zumindest bei der Wanderung ergangen. Vielleicht habt ihr das ähnlich so erlebt.
    Mit eurer verwinkelten Tour in Nordnorwegen habt ihr sicher alles richtig gemacht. Die Fahrt war sicherer und ruhiger als auf der E6 und ihr hattet tolle Naturerlebnisse.
    Ihr habt viele nette Leute kennengelernt und Landstriche gesehen und vor allem in euch aufgenommen, die die meisten anderen, schneller reisenden Urlauber nicht wahrnehmen.
    Ihr werdet diese Reise bestimmt immer in euren Herzen mit euch tragen und euch immer wieder gerne daran erinnern.
    Weiterhin alles Gute und grüßt mir den Inari.
    Hardy

  3. Avatar von Regina

    Lieber Yann, liebe Tamina,
    ich bin vor ein paar Tagen auf euer Reisetagebuch gestoßen und hatte sehr viel Freude daran. Wie schön, dass ihr das geschafft habt und dass ihr andere daran teilhaben lasst,
    LG Regina

    1. Avatar von Yann

      Liebe Regina,
      ach das ist ja nett! Es freut uns sehr das du auf diese Weise mitreisen konntest und Freude daran hattest. Für uns werden die Berichte auch eine schöne Erinnerung an diese tolle Reise sein.
      Liebe Grüße Yann

  4. Avatar von Elisabeth / Johanna

    Liebe Tamina, lieber Jan,

    wir (das sind Elisabeth, ich (Johanna), meine Eltern und Freunde) haben uns gerade eure Bilder angeschaut und sind alle ganz begeistert über eure schönen Reiseerlebnisse ☺ Und natürlich herzlichen Glückwunsch, dass ihr euer großes Etappen-Ziel nun gemeinsam erreicht habt!

    Wir Bodenseeler verbringen gerade einen sehr schönen gemeinsamen Abend mit guten Gesprächen und leckeren Essen vom Grill.

    Wir wünschen euch eine gute Weiterreise und Liebe Grüße

    Oma Elisabeth und Johanna

    1. Avatar von Tamina

      Vielen lieben Dank und ganz liebe Grüße an die Bodenseeler! Da werden wir fast neidisch, während wir hier bei Gewitter und Regen an der Norwegisch-Finnischen Grenze im Zelt liegen… bis bald!

  5. Avatar von Patrick Späth

    Toll, dass ihr es geschafft habt!
    Jona & Jakob

  6. Avatar von Christa Marckmann

    Christa Marckmann,
    Das ist ein wahnsinnig guter Bericht und sehr bewegend, wenn man das als Großeltern miterleben kann ! Vielen Dank für all das Schöne,
    Christa und Achim

    15.07.2023

    1. Avatar von Tamina

      Das freut uns sehr, vielen Dank!

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